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10 Jahre Landesjugendvertretung Westfalen

Es war wohl ein Unfall. Ein Moment kirchlichen Kontrollversagens. Um so schöner für die einen, um so dramatischer für andere, dass es nun schon 10 Jahre her ist, ohne dass man die Erwähnung lassen könnte: die Landesjugendvertretung Westfalen (LJV) hat in diesem Jahr zum ersten Mal „genullt“.   Wenn ich auf diese 10 Jahre zurück blicke, gibt es ewig zwei Seiten: die durchgängig positive, die mit Freude, Spaß und Erfolg für viele verbunden ist, und die durchgängig negative, die ermüdende, frustrierende, die die furchtbare Frage „Warum tust du dir das an“-aufwerfende Seite. Ich würde euch lieber nur von der ersten erzählen, aber im Hinblick auf die nächsten Jahre, im Hinblick auf das evangelische Profil, muss man das 10-jährige Jubiläum wohl für eine kritische Rückschau nutzen.

Ganz kurz zur Entstehung der LJV: Die evangelische Kirche von Westfalen (EKvW ) ist ziemlich verpennt. Anders ist nicht zu erklären, dass sie 45 Jahre lang ohne Jugendvertretungen ausgekommen ist. Natürlich gab’s sowas in einzelnen Kirchenkreisen und Gemeinden, aber wirklich nur sehr vereinzelt, nicht vernetzt, nicht in irgendeiner Kirchenordnung vorgesehen, und auf Landeskirchenebene gab’s gar nix. Außer Hauptamtlichen-Gremien. Die mögen gut ihre Arbeit mit Kindern und Jugendlichen unter dem Dach der Kirche koordiniert haben, aber selbstständige Jugendarbeit, Jugendverbandsarbeit, also das, was von Jugendlichen selbst kommt, wurde damit nicht gefördert, war nicht gefragt, wurde nicht zur Kenntnis genommen.

Bis 1997. Da hatte die Landessynode, das hohe Kirchenparlament, Kinder und Jugendliche auf dem Zettel stehen. „Ohne uns sieht eure Kirche alt aus“ hieß das PR-beratene Motto, und alle Jugendlichen, die da irgendwo mitwirken sollten, freuten sich.
(Ausführlich hier … )

Bis zur Pflegestufe drei werde ich nicht vergessen, wie sich der Applaus anhörte, als wir auf der Landessynode neben vielen anderen Forderungen der Jugend an ihre Kirche von einem Transparent entrollten: Schaffung einer selbstständigen Jugendvertretung. Was die Landessynode dann auch sofort zu unterstützen beschloss (Punkt 12 ).

Und so taten sich Jugendliche aus fast allen Kirchenkreisen der EKvW zusammen und organisierten ihren eigenen Zusammenschluss, ihr Forum zum Austauschen, ihren Jugendverband.

Während in anderen Landeskirchen die Kirchenleitung oder das Kirchenparlament („Synode“) irgendeine Form von Jugendvertretung schon längst – meist seit vielen Jahrzehnten –  installiert hatte, entstand sie in Westfalen wirklich von der Basis, und zunächst ohne großen Widerstand, aber auch mit praktisch null Unterstützung von Seiten der Berufskirchlichen. Von Anfang an aber gab es Stimmen, die nach Legitimation fragten, die sich nicht vorstellen konnten, dass Jugendliche einfach mal machen, ohne dass irgendein Kirchenguru sein Placet dazu gegeben hat. Es ist im Prinzip so bis heute geblieben.

Aber nun erstmal zur schönen Seite:

Seit 10 Jahren organisiert die LJV jährlich 3 Treffen von ehrenamtlichen Jugendmitarbeitern aus den westfälischen Kirchengemeinden und zusätzlich Themenseminare, Workshops u.ä. nach Bedarf. Die LJV sorgt für Austausch untereinander, für neue Ideen, für Fortbildung, für kirchenpolitische und gesellschaftliche Bildung –  alles alleine, auf sich gestellt, ohne eine hauptamtliche Kraft, ohne nennenswertes Finanzbudget. Es waren in diesen 10 Jahren über tausend interessierte und interessante Leute bei den LJV-Treffen. Die LJV hat jede Presbyterwal (Kirchenwahl) mit einer Broschüre begleitet und auch im Web Werbung gemacht, sie hat sich für Partizipation von Jugendlichen in ihrer Kirche auf allen Ebenen eingesetzt (und so unter anderem die Gründung der Evangelischen Jugendkonferenz von Westfalen angestoßen und die Teilnahme von Jugendlichen an der Landessynode erreicht, auch wenn beides noch nicht ganz den LJV-Vorstellungen  entspricht, hat Kirchenkreise beraten, viele Seminare veranstaltet, lustige Kampagnen initiiert wie einen Konfirmanden-Streik (weil Konfis und Konfimierte unter 16 Jahren immer noch nicht wahlberechtigt sind), sie hat bundesweite Medienaufmerksamkeit erregt mit der Position gegen eine Heraufsetzung des Jugendschutzalters für Alkohol (weil die LJV gegen jede Bevormundung Jugendlicher ist), es gab eine witzige Kirchenreform-Kampagne unter der Frage „Heute schon genagelt?“, sie hat aber auch immer Andachten gefeiert, Jugendgottesdienste organisiert u.v.m., kurz: es gab in der Summe viele Monate gute Jugendarbeit, viel Spaß und frisch aufbereitetes Evangelium.

LJV-Treffen sind ganz gut mit agljv-Tagungen vergleichbar: es kommen nur Ehrenamtliche zusammen, es gibt keine hauptamtliche Unterstützung, es wird bis tief in die Nacht getagt und Party gemacht. Allerdings sind die LJV-ler im Schnitt jünger, und von wenigen Ausnahmen abgesehen sind sie nicht in Gremien der kirchlichen Jugendarbeit involviert. Denn auf der Ebene, auf der sie tätig sind, gibt es in Westfalen so gut wie nie Jugendvertretungen: in den Kirchengemeinden. Hier beraten allenfalls Jugendausschüsse der Kirchenvorstände, denen auch einige Jugendliche angehören.

Verwirrend ist für viele Jugendliche, die erstmals auf die LJV stoßen, der schlechte Leumund, den dieses Netzwerk in weiten Teilen der institutionalisierten kirchlichen Jugendarbeit genießt. Und es ist für die engagierten Jugendlichen äußerst frustrierend, sich bei der Diskussion ihrer Positionen überwiegend mit Leuten herumschlagen zu müssen, mit denen sie eigentlich auf einer Seite stehen sollten.

Damit sind wir bei der negativen Seite.

Denn wenn die LJV auch schon lange in den Strukturen der kirchenverwalteten Jugendarbeit vorkommt, ist sie dort doch auch nach 10 Jahren noch ein Störenfried. Was m.E. nicht an der LJV liegt, nicht an ihr liegen kann, denn es sind normale, gemeindlich engagierte Jugendliche, die hier aktiv sind; vielmehr liegt es an einem wirklich zermürbenden Gerangel um Kompetenzen und Macht, aufgehängt an der Frage, wer eigentlich evangelische Jugend ist, sie sein und als sie wahrgenommen werden darf.  

Fakt ist, dass die LJV aufgrund ihrer rein jugendlichen und damit völlig untypischen Arbeitsweise seit 10 Jahren einiges durcheinander bringt – aber leider noch längst nicht genug. LJV-Leute sind in ihren Gemeinden aktiv, die Arbeit „auf Landesebene“ ist für sie in erster Linie Austausch, aber natürlich auch für einige Anliegen Podium: denn immerhin wird das, was die LJV sagt, intensiv wahrgenommen. LJV-ler denken aber nicht in den starren Strukturen, die eine hauptamtliche, kirchenverwaltete Jugendarbeit über die Jahrzehnte geschaffen hat. Jugendliche beziehen Stellung und diskutieren ganz offen ihre Ideen, ohne sich darum zu kümmern, was ein Kreis- oder Landesjugendpfarrer dazu denkt, was die Kirchenleitung beschließt oder was die aej verlautbart. Denn schließlich macht es wenn überhaupt nur andersherum Sinn: dass die sogenannten Spitzengremien und ihre Vertreter nach der Basis schauen, nicht umgekehrt.

Die LJV erhebt keinen Alleinvertretungsanspruch oder sonst etwas. Sie ist einfach ein Jugendverband aktiver Kirchenjugend. Und nur darum geht es. Es gibt kein Bestreben nach „Institutionalisierung“, kein Schielen auf Pöstchen, Quoten oder sonstwas. Genau das macht die LJV auch so stark: Sie ist unabhängig, eine typische Basisbewegung, ein Netzwerk eben von aktiven Gruppen und Leuten. Die kann man nicht disziplinieren mit Machtworten, Beschlüssen oder Liebesentzug. Aber, auch das muss man immer wieder betonen: die Auseinandersetzung mit den verkrusteten Strukturen der Kirche und ihres imaginären Jugendverbandes machen nur einen Bruchteil der LJV-Arbeit aus – aber leider einen großen Teil der öffentlichen Wahrnehmung.

Und doch täte es den Aktiven, die einen Teil ihrer Freizeit mit Engagement in ihrer Kirche verbringen, gut, einmal nicht auf Widerstand zu stoßen. Mal von irgendjemandem aus verantwortlicher Position in der Kirchenhierarchie zu hören: Schön, dass ihr euch einbringt, schön, dass ihr eure Meinung sagt, gut, dass sich hier Jugendliche für ihren Glauben engagieren. Aber das ist in den letzten Jahren nicht vorgekommen. Deutlichmachen kann man das immer gut bei den Finanzen: die Kirche hat bis heute nicht einen Cent in die LJV-Arbeit gesteckt, wenn wir mal von der ein oder anderen Fahrtkostenerstattung in den Gemeinden und Kirchenkreisen absehen; ein bisschen Taschengeld gibt es aus dem Landesjugendplan, also vom Staat. Sonst nichts. Gerade dieser Tage teilte die zuständige Dezernentin mit, dass die Kirche auch zum 10-jährigen Bestehen die ehrenamtliche Arbeit mit keinem Penny würdigen will.

Die jugendlichen Aktiven werden kontinuierlich in irgendwelche Schranken gewiesen, und wer den Laden als Erwachsener wie ich unterstützt, bekommt ebenfalls die ganze christliche Verwaltungsliebe zu spüren  Erst vor wenigen Wochen schrieb der aej-Generalsekretär, ich schädigte die Evangelische Jugend. Merci!

Dabei weiß ich bis heute nicht, was jemand ernsthaft gegen die Anliegen der LJV vorbringen könnte. Die Anliegen sind klar in der Satzung definiert, und sie sind im besten Sinne kirchlich. Die Satzung benennt explizit:

* praktische Hilfe in allen Fragen der evangelischen Jugendarbeit
* Fortbildungsangebote für Jugendliche und Jugendmitarbeiterinnen / Jugendmitarbeiter
* Aufbringung von Mitteln zur Entlastung bei den finanziellen Eigenleistungen der Fortbildungsteilnehmenden
* Förderung partizipatorischer und demokratischer Strukturen innerhalb der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW) und der Gesellschaft
* Förderung selbstbestimmter Organisationsformen für Kinder und Jugendliche
* Unterstützung der Konfirmandenarbeit
* Förderung von Kindergottesdienst und Jugendgottesdienst
* Stellungnahmen zu Fragen der Jugendarbeit und Jugendpolitik
* Beteiligung an Jugendveranstaltungen der EKvW
* Beteiligung an und Initiierung von Projekten der Jugendarbeit
* Organisation von Treffen ehrenamtlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
* Schaffung und Ausbau von jugend- und zeitgemäßen Kommunikations- und Informationsstrukturen
* nationalen und internationalen Jugendaustausch
* aktives Eintreten gegen jede Form der Diskriminierung, insbesondere Rassismus und Fremdenfeindlichkeit
* aktives Eintreten für die freiheitlich-demokratische Grundordnung und das Verantwortungsbewusstsein des Einzelnen
* sowie die Teilnahme am konziliaren Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung von Gottes guter Schöpfung.

Bis heute ist mir nicht eine einzige Kritik bekannt geworden, die sich gegen diese LJV-Ziele wendet. Aber es ist in unserer Kirche einfach nicht vorgesehen, dass sich Jugendliche für diese Ziele selbstständig einsetzen.

Zumindest der Teil evangelischer Jugend, der sich in der LJV organisiert, ist Kirche und will Kirche sein – und bekommt doch genau das oft abgesprochen, wird marginalisiert, mit wirklich dummen Sprüchen zurechtgewiesen.  Das ist gar nicht so verwunderlich, weil es die üblichen Eltern-Kind-Konflikte sind, nur halt ohne Familienbande. Aber es desillusioniert, weil man sich ja doch in der Kirche einen anderen, geschwisterlichen Umgang miteinander wünscht, vor allem ein gegenseitiges Ernstnehmen und ein gleichberechtigtes Mitwirken.

Es bleibt einiges grundlegend zu reformieren. Von den Dingen, die sich in der LJV-Arbeit der letzten Jahre herauskristallisiert haben, möchte ich drei  große Themenfelder benennen:

1. Wir brauchen eine klare Trennung zwischen einerseits selbstständiger Jugendarbeit, also dem, was sich klassisch „Jugendverbandsarbeit“ nennt, was von Jugendlichen selbst getragen wird, und andererseits der Jugendhilfe, Jugenderziehung, Diakonie und allem anderen Bemühen Erwachsener um Jugendliche. Das sind einfach zwei elementar verschiedene Dinge. Die permanente Vermischung, die sich z.B. in den sogenannten zwei Mandaten Hauptamtlicher niederschlägt (einmal für ihren Arbeitgeber Kirche, einmal für die Jugendlichen selbst), schwächt Jugendengagement, anstatt es zu fördern. Erwachsene können sicherlich viele gute Angebote für Jugendliche machen – unbestritten. Aber sie dürfen die selbstständige Jugendarbeit gerade nicht vereinnahmen. Denn das führt dazu, dass Jugendliche nicht mehr ihre eigenen Positionen entwickeln, sondern quasi intern von Erwachsenen gelenkt werden. Was dann noch öffentlich wird, ist eine pädagogisierte, von Erwachsenen gesteuerte Jugendmarionette. Für dieses klare Profil selbstständiger Jugendarbeit habe ich schon in meinem ersten Buch 1992 geworben („Artgerechte Jugendhaltung“) – doch leider sieht die Zeit noch immer nicht nach einem neuen Jugendaufbruch aus.
Wer etwas erreichen will, wer Karriere machen will, der wechselt möglichst frühzeitig die Seite, verlässt die Jugend und adaptiert das Verhalten Erwachsener, das unzweifelhaft zu all den Problemen geführt hat, die wir heute gerne in Fürbitten bedenken: Umweltzerstörung, Kriege, Ausbeutung, Nationalismus, Perspektivlosigkeit …

Es ist zwar nie zu spät, aber die Jugend ist sicherlich die beste Lebensphase für Gegenentwürfe. Sie ist ein Trainingslager für Selbstständigkeit, eine Werkstätte für Quergedachtes, für Ideen, die sich noch nicht haben einsperren lassen in die „das ist halt so / das war schon immer so“-Strukturen Erwachsener – genauer muss man natürlich sagen: einiger weniger Erwachsener, die halt das Sagen in ihren Bereichen haben. Daher hat die LJV auch viele Kooperationspartner gerade außerhalb der engen kirchlichen Jugendstruktur: Schülervertretungen etwa, Naturschutzjugendverbände und viele, viele Einzelpersonen, die auch hoffen, dass es nochmal einen gesellschaftlichen Aufbruch gibt.

2. Wir brauchen eine klare Priorität für Jugendarbeit in der Kirche (wie bspw. in Finnland). Schluss mit dem Gerede, alle kirchlichen Arbeitsfelder seien gleich wichtig. Jugendarbeit ist aus vielen Gründen die wichtigste Aufgabe von Kirche – das muss man hier im agljv-Umfeld sicherlich nicht weiter begründen. Aber es muss endlich laut eingefordert werden, es muss in die Köpfe rein und dann auch in die Praxis, in Kirchengesetze, in die Pfarrerausbildung, in die Seminare für Kirchenvorsteher etc.

3. In der Organisation von Kirche insgesamt und ihrer selbstständigen Gemeindejugend im speziellen müssen neue Wege beschritten werden. Gremienverfahren – Wahlen und Delegationen von Ebene zu Ebene – haben ausgedient. Wer sich mit Demokratietheorie befasst und sich anschaut, wie es um die real existierende Partizipation bestellt ist, wird dem nicht widersprechen können. Ob in den Parteien, den Gemeinderäten, Kreistagen und dann weiter nach oben, ob in Jugendringen, Fernsehräten und was es alles an Gremien für gesellschaftliche Beteiligung gibt: es bröckelt überall massiv, immer mehr fitte Leute sagen sich zurecht, dass ihr Engagement dort verpufft, nichts bringt und ein Verwaltungsapparat und die „Führungsspitzen“ ohnehin die Fäden in der Hand halten, meist ohne aber wirklich zu lenken oder zu leiten, weil sie verwickelt sind in Tausende Abhängigkeiten, Kompromisse, angebliche Notwendigkeiten.

Da braucht es wirklich neue Wege. Wir haben einen solchen Weg zur Diskussion gestellt („Jugendsynode“ ):
Zufallsstichprobe statt Repräsentantenwahl, Einigungs- statt Abstimmungsverfahren. Leider konnten wir bisher niemanden in der Kirche dafür gewinnen, dieses im politischen Raum inzwischen weltweit angewandte Verfahren einmal in der Jugendarbeit auszuprobieren. Lieber trägt man Bedenken.
Wenn alles beim Alten bleibt, wird die evangelische Kirche schneller in der Bedeutungslosigkeit verschwunden sein als die schlimmsten Prognosen es bisher erwarten lassen. Es passt einfach zu vieles nicht mehr, es muss zu viel sehr rasch geändert werden, als dass dies ohne tragfähige Mitgliederbeteiligung gehen kann.

 

 

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